Jede Rolle, jede Figur, ist mit einem meiner vielen „Ichs“ verbunden. Mit dem kleinen, gerne großen Ich. Auf der Bühne treten Figuren auf, eine nach der anderen. Jede zeigt sich im Scheinwerferlicht, sagt etwas, tut vielleicht etwas, winkt und tritt ab. Der „Fastenpater“ tritt mit einer Tasse Tee auf, trinkt, winkt und tritt ab. Der Jesuit tritt entschieden auf, lächelt viel sagend, nickt, winkt und tritt ab. Der Meditationspater tritt auf die Bühne, zitiert Shakespeare: „Der Rest ist Schweigen“, winkt und tritt ab. Der ehemalige Direktor tritt auf, nennt nochmals sein vier M-Führungsprinzip: Man Muss Menschen Mögen, winkt und tritt ab. Der Gründer einer Zen-Linie und einer Kontemplations-Schule tritt auf, sagt: „Der Weg führt zur Mitte“, nickt und tritt ab durch die Mitte. Der „Brückenbauer“ kommt, macht einen Spagat, sagt: „Unmögliches wird möglich“. Steht auf, winkt und tritt ab. Der „Wegbereiter“ findet die Bühne, sucht mit dem Kompass den Ausgang, winkt und tritt ab. Der „Schriftsteller“ zeigt sich, zitiert aus einem Buch Rose Ausländer: „Wer bin ich, wenn ich nicht schreibe?“, lässt das Buch fallen, winkt und tritt ab. Der Priester betritt die Bühne. Er erinnert an das Sterben: „Memento Mori“, macht eine Segensgeste, winkt und tritt ab. Auch Teilpersönlichkeiten zeigen sich: Der Angsthase hüpft auf die Bühne, schnuppert, sieht sich beobachtet – und, husch, weg ist er. Die Gämse – sie hat sich in einem psychosynthetischen Prozess à la Piero Ferrucci aus dem Angsthasen entwickelt – stellt sich auf die Bühne, als wäre diese ein hoher Fels, blickt von oben herab und stolziert hinaus. Der Vorhang fällt. Ich sitze alleine da und bekomme eine Ahnung davon, was mit „daigo“, dem Großen Ich, gemeint ist. Es ist der „wahre Mensch ohne Rang“ (Lin-Chi, 866 gestorben). Der ganz konkrete Mensch aus Fleisch und Blut. Sein Name lautet „Geheimnis“. Und so halte ich für heute in meinem Tagebuch fest: Ich bin ein „Ich-weiß -nicht-wer“.
Aus Niklaus Brantschen: Zwischen den Welten
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